Ohne Titel

Vier Schnitte durchs Querbeet

Vor fast genau zwei Jahren befand ich mich in ähnlicher Situation: einen Text über Ingo Regel zu schreiben, zu seiner Ausstellung im eigenen Atelier, die, so dachten wir alle, seine letzte hierzulande sein würde. Der Antrag lief seit langem, und alles deutete darauf hin, dass die Ausreise unmittelbar bevorstand; zu seiner Zeit, da die dramatischen Flüchtlingsströme sich ihre Genehmigung dazu selbst erteilten. Entsprechend war unsere Stimmung. Wut und Trauer, Ohnmacht und gärender Aufruhr wechselten einander heftig ab und erzeugten ein inneres Gemisch, das explosiv und expressiv auf alles reagierte womit es in Berührung kam: Zeitungsmeldungen, Polizisten, Aufrufe, Programme; aber auch: Bilder, Texte, Gespräche, Pläne. Mit anderen Worten: Farben und Formen trafen uns in einer ganz bestimmten inneren Verfassung; das Bersten der Gefüge, die Wucht rottriefender Knochenkreuze, das Ächzen der im Format verspannten Zeichen korrespondierte unserem existentiellen Druck und machte ihn, nobilitiert im Pathos der letztverbliebenen Sinnoase, aushaltbar, überstehbar, lebbar. Kunst war Überlebensmittel.

Schnitt

Paris, FIAC 91. Unter der grandiosen Stahlkonstruktion des Grand Palais taumele ich von Koje zu Koje, haltlos entlassen in den Strudel aus Namen, Wand-Aktien, Galerien. Zusammenbruch nach der ersten Runde und zähes Kapieren: Ich bin der Gesandte einer anderen Welt, wollte, gar noch in unumschränkter Muße, re-zi-pie-ren, beseelt von „interesselosem Wohlgefallen“. Doch hier war Messe, es ging um Geschäfte, Geld, Verträge, Frauen; und nicht um kontemplative Attitüden vor den Verhandlungsgegenständen. Verwirrt ziehe ich mich ins Beaubourg zurück, erhoffe mir die reine Sphäre musealisierter Kreativität, zweck-frei und sinn-reich.

Schnitt

Leipzig, Windmühlenstraße 14, Atelier Ingo Regel. Wir reden über Mieten, ABM-Stellen, Unterhaltstabellen und die ganz Schlauen, die „vermögensbildende Maßnahmen“ einleiten. Schließlich, nur allmählich, durch den Alltagswust hindurch, doch noch über Bilder. Eine Ausstellung steht an, in einer neu zu eröffnenden Galerie, erstmals mit der Möglichkeit eines Katalogs. Und ich beginne, mich den Kraftfeldern der rings an den Wänden ausgebreiteten Bilder und Objekte zu überlassen. Die neuen Arbeiten stehen im Stapel ganz vorn: farbintensive Flächen, auf denen in sich verschlungene Formen erhitzt agieren. Halbkreise, Diagonalen, Zacken schwingen über tosendem Grund, setzen dem weich fließenden
Malstrom lineare Härte entgegen. Diese schriftartigen Zeichen wollen nichts erzählen oder beschreiben und sind dennoch nicht bloßen bildorganisierenden Notwendigkeiten geschuldet: Sie verweisen in ihrer elementaren Ausprägung auf geistige, und das meint auch spirituelle Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde, Substanz und Stoff, Idee und
Materie. Zwischen-Reiche wie diese beschäftigen Ingo Regel schon geraume Zeit; mit der ihm eigenen Sensitivität dringt er in transrationale Wahrnehmungszonen vor, setzt sich den Begierden des Unbewussten aus, erkundet die Wirkkräfte einer als beseelt empfundenen Natur, in der Geister und Dämonen ebenso am Werke sind wie die so unbestechlichen Naturgesetze.

Das alles jedoch hat wenig mit modischer Esoterik zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck einer Suche nach ursprünglichen, ganzheitlichen, mythischen Zuständen und Seinsweisen. Diese Suche ist weder rückwärtsgewandte Höhlensehnsucht noch exotisierende Kolonialherrengebärde; sie ist ein Unterwegssein zu den unentfremdeten Bezirken in sich selbst, aus denen heraus ein primärer Zugriff auf Welt vielleicht doch noch möglich ist, selbst noch am Ende dieses Jahrhunderts.

Harald Kunde, Nov. 1991

Ausschnitte aus dem Katalogtext von Harald Kunde, Nov. 1991 – Ingo Regel:
Malerei-Objekte-Installationen , Ausstellung in der Galerie Armarium

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